Michel Reiter, Intersexuell
– Ein Leben jenseits der Geschlechter –
veröffentlicht im ZEIT-Magazin v. 28.01.1999, Hamburg, S.12-15
Von Oliver Tolmein
Ein Kind, nackt, vor eine Wand gestellt, im Hintergrund ein grobes Raster aus Quadraten. Von der Seite aufgenommen. Von vorne. Das Kind liegt, die Beine gespreizt. Die Vagina wird ins Bild gerückt. Nahaufnahme. Der Arzt, der das Blatt mit den Bildern in die Krankenakte packt, ist zufrieden. Die Körper-Proportionen stimmen. Der zehnjährige Patient paßt ins Raster. „Betrifft: Kind Birgit Reiter” schreibt er im Arztbrief an seinen „sehr geehrten” Herrn Kollegen: „Sehr vitales, prächtig gediehenes Mädel, welches außer der Blutentnahme nichts fürchtet.” Der Chirurg kann stolz sein: Daß er das Kind als „prächtig gediehenes Mädel” weiterreichen kann ist das Ergebnis seiner jahrelangen Behandlung. In der Geburtsurkunde bescheinigt das Standesamt den Eltern Reiter noch, einen Sohn geboren haben. Mit Namen „Michel”. Aber ein richtiger Junge wird „Michel” eben nicht. Der falsche Chromosomensatz, keine Hoden, zu kleiner Penis. Der Eintrag in der Geburtsurkunde wird nach ärztlicher Beratung korrigiert, mit Stempel und Unterschrift des zuständigen Sachbearbeiters. Aus „Michel” wird so von Amts wegen und mit Hilfe der modernen Medizin „Birgit”. Und damit das Kind, dessen Geschlecht nach der Geburt nicht eindeutig zuzuordnen ist, wenigstens für den Rest seines Lebens unzweifelhaft als Mädchen und Frau durchgeht, legen die Ärzte im „Dr. von Haunerschen Kinderspital” schließlich bei dem vierjährigen Kind Hand und Skalpell an: „Neueinpflanzung der Vagina. und Klitoridektomie.” steht im Krankenblatt. Der zu kleine Penis wird als zu große Klitoris entfernt, eine Vagina wird chirurgisch geschaffen. Als Frau ist Birgit Reiter nicht geboren worden, aber zur Frau wird sie gemacht. So einfach ist das. Und so mühselig. Über Jahre hinweg muss nachgebessert und kontrolliert werden. Immer und immer wieder wird die Vagina mit Metallstäben gedehnt und erweitert, Bougierung heißt diese schmerzhafte Behandlungsmethode. Birgit muss hochdosierte Hormone schlucken, damit sie nicht „vermännlicht”. Nach zwölf Jahren intensiver Behandlung bilanzieren die Medizin-Männer: „Die Scheide ist mit zwei Fingern passierbar. Das anatomische Ergebnis dürfte nicht bei der Kohabitation hinderlich sein, eher eine fehlerhafte psychosexuelle Einstellung.” Dagegen sind die Ärzte machtlos: Die Patientin, der sie die Attribute einer Frau verliehen haben, die sie für den Vollzug des Beischlaf zurechtoperiert haben, fügt sich nicht in ihre Rolle. In den Krankenblätter häuft sich die Kritik: „Die Kooperationsbereitschaft von Birgit ist im Augenblick mangelhaft”; „Die Therapie wurde von der etwas aggressiven und nicht leicht zu führenden Patientin nicht regelmäßig durchgeführt”; „wie erwartet ist die Patientin zur vereinbarten Kontrolluntersuchung nicht erschienen”.
Die Patientin ist längst keine Patientin mehr. Sie steht an einer Straßenkreuzung und wartet auf die „Tolleranzen”, eine Theatergruppe von Schwulen und Transsexuellen. Birgit Reiter nennt sich auch wieder Michel: „Michel, das ist für mich die Erinnerung an die Zeit, als ich noch nicht sexuell verstümmelt war. Michel steht für mich und meine körperliche Integrität.” Lange Haare, weite Hosen, kantiges Gesicht – der dort steht und mit mir spricht ist heute äußerlich schwer einem Geschlecht zuzuordnen. „Das ich jetzt wieder Michel heiße hat nichts damit zu tun, dass ich ein Mann sein will. Aber zu meinem Namen Michel habe ich ein gutes Gefühl. Ich denke, das Kind mit Namen Michel ist bestimmt gern auf die Welt gekommen. Birgit ist dagegen nur konstruiert worden. Aber vielleicht ändere ich meinen Namen künftig noch häufiger.” Neben Michel packt ein Einsneunzig Hüne in Frauenkleidern das Megaphon aus, ein stark geschminkter Mann in Stöckelschuhen und eine durchtrainierte, kräftige Frau im dunklen Anzug verteilen Flugblätter an die Passanten vor der Charitè. Entrollt eine Crew Schwuler und Lesben ein buntes Transparent, Transsexuelle und Transvestiten schließen eine Lautsprecheranlage an. Michel Reiter geht nervös zwischen den Gruppen hin und her: Es ist die erste öffentliche Aktion, mit der Intersexuelle gegen die operativen Geschlechtszuweisungen protestieren. Anlass ist das „3. Berliner Symposion für Kinder- und Jugendgynäkolgie”, zu dem Endokrinologen, Chirurgen und Gynäkologen aus ganz Europa angereist sind. „Was soll ich bloß machen, wenn mir die Ärzte hier begegnen, die mich in München behandelt haben?” hat sich Michel Reiter schon Tage vorher gefragt. Denn für ihn war die jahrelange Behandlung Gewalt, sexuelle Verstümmelung. Während seine Eltern Dankesbriefe an die Ärzte verfassten und glücklich waren, dass die Medizin ihnen ermöglichte, ihr Kind als „normales” Mädchen großzuziehen, ist Michel Reiter fast verzweifelt. Er hat sich zurückgezogen, ist ohne Freunde aufgewachsen, hat sich stattdessen Cliquen gesucht, wild, riskant und mit viel Alkohol gelebt, ist schließlich zusammengeklappt, hat Therapien begonnen und abgebrochen, hat jahrelang an Selbstmord gedacht.„1995 ging es nicht mehr weiter. Da stand ich vor dem absoluten Nichts.” Damals hat er durch Zufall Heike kennengelernt. Eine bekennende Intersexuelle in Köln, „die erste Intersexuelle, die ich je getroffen habe”. Für Michel Reiter war das eine Sensation, etwas völlig Überraschendes: Er war nicht allein. Und es gab jemanden, mit der er über sein ganzes Leben reden und sich auseinandersetzen konnte, nicht nur über den Ausschnitt „sexualisierte Gewalt in der Gynäkologie”, wie mit Feministinnen, in deren Szene er, damals noch Birgit, lebte.
Dass Michel so spät und erst durch Zufall eine andere Intersexuelle kennenlernt ist erstaunlich – und auch wieder nicht. Bei einem von ungefähr 500 Kindern in der Bundesrepublik diagnostizieren die Ärzte eines der Syndrome, die in klinischen Lehrbüchern in die Kategorien Hermaphroditismus oder Pseudohermaphroditismus unterteilt werden. Auf die Diagnose der „Krankheit” folgt die Therapie: die Zuweisung eines eindeutigen Geschlecht soll die Heilung sein. Die Suche nach biologischen Indikatoren, die die Entscheidung ermöglichen sollen, ob das Kind als Mann oder Frau leben soll beginnt: Untersuchungen des Zellkerns und der Chromosomen, die Beurteilung der äußeren Genitalien, die Feststellung ob Eierstöcke oder Hoden vorhanden sind, liefern den Medizinern die entscheidenden Anhaltspunkte für ihr weiteres Vorgehen. Die Operationen und Behandlungen folgen heutzutage in den ersten Lebenswochen. Die kleinen Patienten sollen möglichst früh, Ärzte und Eltern hoffen dadurch auch möglichst ohne Probleme, in das zugewiesene Geschlecht hineinwachsen. Michel Reiters Perspektive ist eine andere: „Ich hatte nie eine Chance mich zu entscheiden. Ich musste immer funktionieren, wie die Ärzte und meine Eltern es für mich vorgesehen hatten.”
Obwohl Intersexualität kein seltenes Phänomen ist, ist sie für die Betroffenen und ihre Familien ein Tabu. Darüber spricht man nicht, wird ihnen eingeschärft. Nur wer sich an die Regeln hält und sich anpasst, wer lernt, statt eine eigene Identität zu entwickeln, die Geschlechter-Rolle zu spielen, die ihm oder ihr zugewiesen ist, kann auf Anerkennung hoffen, auf Freundinnen und Freunde. „Der Witz dabei ist, dass dieses Eindeutigsein eine Fiktion ist”, ist sich Michel Reiter sicher, „wenn man alle Menschen nackt nebeneinander aufstellt, sieht man mehr Variationen von Brüsten und Genitalien, als Gemeinsamkeiten. Jedenfalls kann niemand zwei ganz klar voneinander verschiedene Gruppen zusammenstellen.” Aber die Fiktion funktioniert. Und Intersexuelle werden weiter behandelt. Sie haben es damit schwerer als Schwule und Lesben, die heute niemand ernstlich mehr „heilen” will. Und sie können sich auch, anders als Transsexuelle und Transvestiten nicht selber für ein Geschlecht entscheiden, sondern leben mit einer Zuweisung durch andere. Der Gedanke keines der beiden angebotenen Geschlechter haben zu wollen, sondern einem ganz anderen Entwurf zu folgen, gilt als unerhört: So interessant nämlich das Changieren zwischen den Geschlechtern in der Welt der Werbung und der Mode ist – dort wo es nicht um den schönen Schein geht, sondern wo Menschen das Recht auf eine ganz andere Wirklichkeit einfordern, ist die Toleranz nach Michel Reiters Erfahrungen schnell am Ende. „Die Welt ist so strikt heterosexuell organisiert, dass man sich immer entscheiden muss: ob man aufs Klo will, in den Frauenbuchladen, ein Bankkonto eröffnen oder ein Behördenformular ausfüllen. Entweder ist man Mann oder Frau. Und wenn man sich nicht entscheidet entscheiden andere für einen.”
Es gibt in Deutschland keine intersexuelle Subkultur. Voraussetzung für das Entstehen einer Subkultur ist Selbstbewusstsein – und gerade das können intersexuelle Menschen kaum entwickeln. „Die Operationen und die Jahre der Behandlung bewirken ein Trauma. Ich habe in 14 Jahren 200 gynäkologische Untersuchungen über mich ergehen lassen müssen.” resümiert Michel Reiter, „und ein operativer Eingriff, der so früh erfolgt wie bei vielen von uns Hermaphroditen zerstört jedes Gefühl von Intaktheit und lässt einen in ein tiefes Loch fallen.” Auf den freien Fall, den harten Aufschlag folgen jetzt die Versuche, wieder hochzukommen, ein eigenes Leben zu führen. Nur dass ein eigenes Leben zu führen voraussetzt, etwas eigenes zu rekonstruieren. „Ich fühle mich wie ein Chamäleon, nur ganz selten habe ich das Gefühl Ich zu sein, weil dieses Ich sich nicht entwickeln konnte. Mein Ich ist vier Jahre alt, es stammt aus der Zeit, bevor die Bougierungen vorgenommen wurden.”
Michel Reiter redet schnell und viel über sein Leben jenseits der Geschlechter. Über die Verletzungen, die ihm zugefügt wurden. Über die Ratlosigkeit und Aggressivität, mit der ihm andere, auch Menschen, die zu anderen Minderheit gehören, begegnen. Über den Bruch mit seinem früheren Leben als Birgit Reiter. Ob wir in seiner kleinen Wohnung unterm Dach, zwischen vollgestellten Regalen, dem überladenen Schreibtischen und der viel zu engen Küche sind, auf der Strasse nach einem Kaffee suchen, mit der Bahn nach Köln zu Heike fahren, in Berlin die Kundgebung stattfindet – er erzählt, legt sich und seine Geschichte bloß, weil alles besser ist als das Schweigen. Vielleicht auch weil, nach all den Jahren erzwungener Anpassung, er nicht mehr sich konfrontieren lassen will, sondern selbst eine Auseinandersetzung einfordert. Fast zwei Jahre lang hat er auf Veranstaltungen, Diskussionsrunden, in politischen Gruppen und bei Menschenrechtsorganisationen sein Anliegen vorgetragen. „Meine größte Angst dabei war, dass mal einer aufsteht und sagt: Was hast du denn, das war doch richtig, was sie mit dir gemacht haben.” Passiert ist das allerdings nie. 1996 hat Michel Reiter die Arbeitsgruppe gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie ins Leben gerufen. Seine Aktivitäten haben ihm geholfen, seinen Standpunkt neu zu bestimmen, sie haben ihm aber auch ein gehöriges Maß an Disziplin und damit Selbstverleugnung abgefordert: „Auf den Veranstaltungen bin ich eine andere Person. Ich würde dort auch gerne mal vier Jahre alt sein können, aber das habe ich mir nie gestattet.”. Seinen Beruf als EDV-Fachkraft und Vermessungstechniker hat er aufgegeben. Zwei Jahre lang war er arbeitsunfähig geschrieben, mittlerweile studiert er Sozialwissenschaften. „Wie es beruflich weitergeht, wie ich Geld verdienen soll ist unklar, das macht mir auch Angst, aber ich kann heute die Kompromisse nicht mehr eingehen, ich kann nicht mehr irgendeinen Job erledigen, der mich in meiner Auseinandersetzung mit mir nicht weiterbringt.” Das klingt bei aller Entschiedenheit freundlich, fast entspannt. Michel Reiter ist keine tragische Gestalt, kein verbitterter Kämpfer, sondern einer, der sich auf die Suche nach etwas ganz neuem gemacht hat. „Zwei sind wir in der Bundesrepublik, die offen über ihre Intersexualität reden, 150 gibt es in den USA” rechnet er vor. Zwei, die mit ihren Initiativen auf Interesse stoßen, die Neugierde entfachen, denen aber der Durchbruch bislang versagt geblieben ist. Die Resonanz bei anderen Betroffenen ist spärlich. „Mich wundert es nicht, dass sich so wenig Intersexuelle bewegen” kommentiert Michel Reiter und blättert in dem Aktenstapel, der neben dem überladenen Holzregal in seinem kleinen Arbeitszimmer liegt, „wenn sie so von Ärzten und Angehörigen kontrolliert werden, wie ich lange Zeit, dann können sie nicht kritisch reden. Viele sind auch tot. Manche psychiatrisiert. Ein paar kann ich vielleicht in der Transsexuellen und Lesbenszene entdecken, die sich dort als Vereinzelte eine Nische gesucht haben. Ein paar sind auch verheiratet und wollen nicht an ihre Vergangenheit erinnert werden.” Auch die Eltern von intersexuellen Kindern nehmen nur selten die Möglichkeit wahr, mit den Betroffenen zu sprechen, bevor sie Entscheidungen über Operationen und Geschlechtszuweisungen treffen.
Im Oktober 1996 kommt es zu einem Ernstfall Michel Reiter erfährt, dass in einer Klinik im nordrhein-westfälischen Herne ein intersexuelles Kind operiert und zum Mädchen gemacht werden soll. Er versucht Kontakt mit den Eltern aufzunehmen und redet stundenlang mit ihnen. Andere versuchen mit dem Arzt zu sprechen. Michel Reiter und seine Mitstreiter mobilisieren die Frauenrechtsorganisation Terre des femmes, die gerade eine Kampagne gegen Beschneidung in Ländern der Dritten Welt führt. Was an ägyptischen und afrikanischen Mädchen nicht gemacht werden soll, muss auch bei Kindern in Deutschland verboten sein, fordert er. Die Eltern denken nach, und entscheiden sich dann doch für den Eingriff. Die Hoffnung Normalität herstellen zu können ist größer als die Angst, dem Kind eine Entscheidungsmöglichkeit zu nehmen. Michel Reiter denkt an seine Eltern, mit denen er längst jeden Kontakt abgebrochen hat, die er verantwortlich macht, für das Elend, das er durchlitten hat. Der Arzt versteht die Aufregung nicht. Die Kritik, hier werde ein Kind „sexuell verstümmelt” will er nicht gelten lassen und verweist auf die heutigen, ausgefeilten Operationsmethoden: Dass in den 60iger Jahren bei intersexuellen Kindern die Klitoris oftmals vollständig entfernt wurde, gesteht er ein, sei ein Fehler gewesen. „In 20 Jahren” konstatiert Michel Reiter jetzt doch ein wenig bitter, „werden sie einräumen müssen, dass ihre heutigen Operationsmethoden ein Fehler sind.” Die Konventionen und die Hoffnung der Eltern, durch einen chirurgischen Eingriff ließe sich Normalität herstellen, siegen schließlich über das Engagement von ihm und seinen Mitstreitern.
Vor der Charitè ist die Situation unterdessen heikel geworden. Die Kinder- und Jugendgynäkologen, die Chirurgen und Hormonforscher werden gleich Mittagspause haben. Die „Tolleranzen” haben Pappkameraden mit Idealmassen aufgebaut und vermessen Passanten: Wer ist ein richtiger Mann? Wer hat zu schmale Hüften? Wer ein zu kleines Geschlecht? Michel Reiter hat sich mit ein paar Dutzend anderen aufgemacht: Er will die Mediziner direkt mit seiner Kritik an ihrem Tun konfrontieren. Der Weg durch die Gänge des Krankenhauses ist lang und verwinkelt. Michel Reiter ist sichtlich nervös. Jetzt kann er das erste mal denen entgegentreten, die ihm die Möglichkeit genommen haben sich in seinem Körper zu entwickeln. Der Sicherheitsdienst hat Wachen postiert. Im fahlen Licht haben sie sich aufgebaut und lassen niemanden vorbei. Die Ärzte stehen in sicherer Distanz im Tageslicht im Foyer und schauen zu wie einer sich versucht sich an dem Wachtposten vorbeizudrängen, wie einer anderen das Megaphon entrissen wird. Sie stehen auf der sicheren Seite. Die Kritik kommt nicht an sie heran. Aber sie können sie auch nicht übersehen.
Michel Reiter ist erleichtert, erschöpft – und ein bisschen enttäuscht. Ein Signal ist gesetzt worden, die Routine der Geschlechtszuweisung konnten sie nicht unterbrechen. In den nächsten Monaten will er etwas kürzer treten, sich neu orientieren. Er will sich nicht im Aktionismus erschöpfen, will seine Ziele nicht zu kurz anpeilen. „Wenn jetzt statt der zwei Geschlechter noch ein drittes anerkannt würde, wäre mir das zu wenig” sagt er. Ihn interessiert alles, was sich gegen Institutionen und Ordnung richtet. Er liest über die Chaos-Theorie der Physiker . Er selbst überlegt künftig Filme zu machen oder Kunst. Und dann hält er im freien Gedankenflug kurz inne und zieht eine nüchterne, etwas abgegriffene Bundestagsdrucksache aus einem Materialienstapel in seinem Zimmer. Es ist die Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage über „Genitalanpassung” von der lesbischen PDS-Abgeordneten Christa Schenk: „Soweit in den Regelungen des bundesdeutschen Rechts der Begriff >Geschlecht< gebraucht wird, ist dieser immer eindeutig den alternativen Kategorien >männlich< und >weiblich< zugeordnet. Da die rechtlichen Regelungen nicht aussagen, was unter diesen Begriffen zu verstehen ist, Diese Begriffe müssen nicht juristisch, sondern medizinisch-naturwissenschaftlich bestimmt werden.” – „Da die Politiker nicht mal wissen, was Geschlecht ist und die Ärzte die Definitions-Macht behalten, sind die Aussichten, dass sich etwas bessert schlecht” gibt er mir mit auf den Weg, und teilt mir seine Schreckensvision mit – dass es zur Entwicklung eines intersexuellen Selbstbewusstseins nicht mehr kommen könnte, „weil mit einer zunehmenden öffentlichen Auseinandersetzung um dieses Thema der Ruf nach pränataler Diagnostik und Abtreibung von Föten, deren Geschlecht nicht eindeutig zuzuordnen ist, immer stärker wird.” Zukunftsangst – Ein paar Wochen später hält er einen Vortrag im Biologieunterricht eines Gymnasiums vor Oberstufenschülern und ist überrascht: „Ich hatte das Gefühl, sehr offene und engagierte Menschen vor mir zu haben. Ich frage mich, was passieren würde, wenn sie nicht nur etwas Hören, sondern über ihre eigenen Ängste reden könnten…”